Leben wie auf der Kirmes

Familie Döhring lebt in einem Haus auf dem Gelände des T.E.C.T., auch T.E.C.T. Campus genannt. Dieser ist zu weiten Teilen durch eine Mauer eingezäunt, um dem Gelände und den Menschen darin Schutz und Sicherheit zu gewähren. Allerdings ist auf einer Seite die Mauer ein weites Stück offen und damit ist das Gelände letztlich doch jederzeit für jeden zugängig.

rechts die Häuser werden von Mitarbeiterfamilien des T.E.C.T. bewohnt – dazwischen ein großer Sportplatz und links angrenzend dann die „Hauptstraße“ von Jui – hier gibt es komplett keine Mauer.

Das Haus das wir bewohnen ist ähnlich einem Bungalow – hat somit nur eine Etage, auf der sich alles befindet. Es hat ausreichend Platz – sogar ein Gästezimmer – Gäste sind herzlich willkommen – wenn sie denn auch versprechen wieder zu gehen!

Es ist hell, freundlich und vieles wurde für uns liebevoll eingerichtet – wir sollen uns wohl und willkommen fühlen. Und auch wenn alles anders ist als wir es kennen und hatten, kommen wir mit vielem zurecht oder bemühen uns jedenfalls. Etliches bedarf der Reparatur oder der Überarbeitung und das braucht Zeit – aber small, small – Veränderungen sind möglich. Und auf manches gilt es eben zu verzichten und Neues zu adaptieren. Wir sind ja lernfähig…

Das Haus in dem Döhrings wohnen

Das Haus hat viele Fenster und ist dadurch hell und freundlich. Die Fenster haben keine durchgehende Glasscheibe, sondern sind ein Konstrukt, das aus einzelnen Glaslamellen besteht, die man mit einem mechanischen Hebel etwas öffnen oder schließen kann. Komplett lässt sich diese Vorrichtung nicht schließen. Bei den hiesigen Temperaturen soll dies die Windzirkulation und damit Kühlung der Innenräume unterstützen.

Fenster in geöffnetem Zustand

Die Hebel funktionieren nur eingeschränkt. Wir können etwas steuern, wie viel Wind – v.a. bei Sturm – noch hinein kommt. Was jedoch in keinem Fall, zu keiner Zeit gewährleistet ist: ein Sicht- und Hörschutz. Deshalb gibt es auch zum Sichtschutz Vorhänge vor allen Fenstern.  

Seit Beginn des Semesters ist das Leben auf dem Campus und darum herum intensiver und vielschichtiger geworden.

Nach unserer Ankunft im August standen wir noch aufrecht im Bett, als um 5 Uhr der freundliche Muezzin aus der Nachbarschaft seinen morgendlichen Gebetsaufruf über Lautsprecher erschallen ließ – gefühlt neben dem Bett.

Fenster im „geschlossenen“ Zustand

Mittlerweile sind es um uns herum mind. vier – die unterschiedliche Inhalte – Texte und Musik – nie synchron – erschallen lassen und wir im Zentrum all dessen. Es ist interessant – im Vielklang leider wenig harmonisch – aber ok – gehört dazu und mittlerweile gelingt es uns sogar manchmal, dies auszublenden.

Klar, auch die Studenten bringen Leben und Geräusche mit sich. Sitzen oft bis 22 Uhr noch nebenan unter dem Baum und erzählen oder laufen an den Fenstern vorbei und sagen „Hallo“ – daran kann man sich gewöhnen.

Als nächstes hörten wir meist freitags oder samstags abends laute Mono- bzw. Dialoge, die auf einen Film schließen ließen. Und richtig, direkt hinter der Mauer – 100 Meter von uns entfernt – befindet sich das örtliche Kino. Zweimal die Woche für ca. zwei Stunden können wir Kino hören – Stummfilm kannten wir schon – jetzt ist es genau anders herum: Wir haben den Sound, aber kein Bild!  

Dann jedoch eröffnete das Entertainment Center seine Pforten direkt gegenüber dem Kino – auch 100 Meter Luftlinie von uns. Hier kommen Discothekbesucher – Raver und Tänzer auf ihre Kosten. Jeden Freitag, Samstag und mittlerweile auch unter der Woche beschallen diese die gesamte Nachbarschaft in voller Lautstärke.

Wer die Lautsprechertechnik nach Sierra Leone gebracht hat, sollte nachträglich noch dafür bestraft werden – eine ganz persönliche Meinung von Ralf. Am besten eingesperrt in einem kleinen Raum mit 24 x 7 Beschallung – volle Lautstärke! Ralf weiß, wir leben aus Gnade und Vergebung – aber trotzdem…

Eine der Beschallungsanlagen bei einer der Hochzeiten

Dieses Entertainment Center bot bislang mind. zweimal die Woche eine Raveparty an. Die gehen so richtig ab 23 – 1 Uhr nachts los bis ca. 3 oder 4 Uhr morgens. Woher wir das so genau wissen? Na, wir sind sozusagen in der ersten Reihe und unterbrechen extra dafür unseren Schlaf. Wäre ja auch zu schade, solch eine Gelegenheit einfach an sich vorbeiziehen zu lassen. Die krasse Lautstärke ließ uns am Anfang die Lärmquelle direkt neben unserem Haus vermuten. Es ist in etwa so wie mitten in einem deutschen Stadtfest direkt vor der Bühne. Trotz Ohropax fühlt man noch die Bässe.

Dann hat sich zu unserer fehlenden Freude in unmittelbarer Nachbarschaft noch eine kleine, sehr eifrige Kirchengemeinde niedergelassen. Sie sind jeden Tag mit ihrem Programm – Gebetskampf – Worship und Verkündigung – am Start. All das erinnert Ralf an die Diskussionen und Phänomene rund um den „Toronto-Segen“ – lang lang ist´s her aber hier lebt es. Silben werden zigmal wiederholt, alles in voller Lautstärke über Mikrophon. Das ganze äußert sich in einem langen Crescendo bis hin zum inbrünstigen Schreien mehrerer Männer in Mikrophone, die sich gegenseitig anfeuern und übertreffen. Teilweise gibt es weitere Gemeinden in der anderen Richtung, die ähnliches nachts um 2 Uhr beginnen, um die Nachbarn „zu missionieren“. Inwieweit das funktionieren soll, ist uns schleierhaft.

Gibt es auch ruhige Momente? Ja die gibt es –  morgens ab 4 bis 8 Uhr  – da ist es doch relativ ruhig. (Anmerkung – letzte Nacht ging die Raveparty jedoch bis 5 Uhr – abgelöst vom anschließenden Muezzin).

Irgendwo ist immer eine Lärmquelle und das ist vor allem was die Abende und Nächte betrifft – schwierig.

Wir Erwachsenen haben uns angewöhnt, immer mit Ohropax zu schlafen – anders ist das nicht möglich. Nathanael schafft es irgendwie, den Lärm meist zu ignorieren. Gut so, denn er kann mit Wachs in den Ohren nicht schlafen.

Wirklich interessant und für uns schwer nachvollziehbar ist, dass der dauerhafte Lärm wohl kaum jemand hier stört. Ja, es ist unangenehm und auch die hiesigen hören es, aber das ist halt so – ist unsere Kultur.

Wobei es eigentlich diesbezüglich klare Regeln – sogar Gesetze gibt. Offiziell. Doch ob die auch umgesetzt werden… Keiner weiß, ob sich das am Ende doch gegen ihn persönlich wenden würde, deshalb beschwert man sich lieber nicht. Wir nehmen wahr, dass diese Kultur von Angst und starken Machtverhältnissen  geprägt wird. Die Angst, was sollen die anderen denken, sagen oder machen. Was, wenn der andere, dem ich Unangenehmes gesagt habe, mit Anfeindung oder Gewalt reagiert und es mir später heimzahlt?

Aber zurück. Also immer wenn du denkst, es kann nicht schlimmer kommen, dann gibt es noch ein „Topup“. Heute am Samstag – nach einer Ravenacht, die um 5 Uhr ihr Ende fand – war es erstmal ruhig und still. Doch gegen 12 Uhr mittags fing irgendwo draußen wieder eine extrem laute Beschallungsanlage an zu dröhnen. Wir dachten, das wäre wieder eine von den üblichen Werbefahrten – wie beim Karneval – ein Wagen mit unglaublich lauter Musik und drum herum und darauf wild fuchtelnde Menschen, um ihr Produkt anzupreisen. Oder ist das wieder das Entertainmentcenter – nur früher und noch lauter als sonst?

Die Musik wird, egal ob auf dem Markt, der Straße, Diskothek oder Kirche nur für draußen gemacht – um dort Aufmerksamkeit zu erreichen und zum Kommen einzuladen. Nun, deutsche Seelen werden sie so nicht fangen – jedenfalls treibt es unsere weit, weit weg.

Als sich aber nach zwei Stunden Beschallung der Lärm nicht vom Fleck bewegte, rafften wir uns auf, um mal nachzuschauen. Und siehe da, die Beschallung kam vom Campus Gelände selbst.

Die ersten Gäste sind schon da – Frauen in Blau – Männer in überwiegend weiß – die Braut in Rot und der Bräutigam in Blau

So erfuhren wir, dass das Gelände immer wieder für verschiedene Veranstaltungen angemietet und gebucht werden kann – in diesem Fall für eine Hochzeitsfeier. Die soll gegen 16 Uhr losgehen! Warum aber die Musik schon seit 12 Uhr volle Pulle läuft – wo nur drei-vier Hansel den Aufbau machen – ist eine Frage, die offensichtlich überfordert.

Für die Einheimischen ist das völlig normal – sie schauen uns mit großen Knopfaugen fragend an und verstehen unser Problem nicht. Das ist doch normal – gehört dazu – ist unsere Kultur. Mit der Musik zeigen wir, dass hier ein tolles Fest läuft. Nun gut, verstehen wir, aber es ist nicht unsere Kultur und macht uns krank!

Hier findet die gesamte Hochzeit statt – Gottesdienst und dann Feier

Zu unserer ganzen Freude erfuhren wir dann, dass heute parallel noch eine weitere Hochzeit stattfinden wird – hier allerdings nur der Empfang nach der Trauung. Dies geschieht auf der anderen Seite des Campus – wo die Immatrikulation stattgefunden hat. Sie haben gerade mit dem Aufbau begonnen, na und was steht als erstes und muss getestet werden – richtig, die Beschallung ist bereits in vollem Gange.  

Wann geht es los? Um 16 Uhr! Es ist jetzt 17 Uhr? Gibt es da keinen Ablauf- oder Zeitplan? „Weißt du Ralf, der Pastor kommt gleich nach Gott!“ So schauts aus.

Hier findet nur die Feier nach dem Gottesdienst statt

Das Haus, in dem wir versuchen zu überleben, befindet sich mittendrin. Und jetzt haben wir eine Doppelbeschallung. So etwas haben wir noch nirgends, noch nie irgendwo erlebt und ehrlich gesagt ist es auch nicht erstrebenswert. Wir können uns nur noch schreiend verständigen – in unserem Wohnzimmer.

Fotos sind neben der Musik das zweit wichtigste

Uns wurde erklärt, dass November und Dezember die Monate sind, in denen Veranstaltungen vermehrt stattfinden. Die Regenzeit ist vorbei – das Wetter angenehmer und alles ist grün – fürs Auge ist das etwas Schönes. Aber bei dem Lärm schließt sich auch das Auge!

Wir können nachvollziehen, daß durch die Vermietung des Geländes notwendiges Geld herein kommt – aber als Mieter und Anwohner – ist es sehr anstrengend. Wir haben das Gefühl wie auf einer Kirmes zu leben. Dort die Marktschreier – die Fahrgestelle – der Wanderzirkus, und wir mitten drin.

Was echt interessant ist, sind immer wieder die Aussagen von Gästen oder Mietern des Geländes, daß es hier auf dem T.E.C.T.-Campus so schön – sauber und ordentlich ist. Viele kommen einfach mal vorbei um spazieren zu gehen – Fotos von sich und ihren Lieben zu machen oder eben um für Veranstaltung die Location zu mieten. Die Kultur Sierra Leones aber ist, das man alles was man nicht mehr braucht, einfach irgendwo hinschmeisst. Nach so einer Feier ist der komplette Platz und Gelände verdreckt und übersät mit Müll. „Weil es hier so schön, ordentlich und sauber ist“, die Erkenntnis erreicht leider nicht das Verstehen und Handlungszentrum. Deshalb sieht es überall auch teils wie auf einer Müllkippe aus – leider, weil es ein schönes Land ist und sein könnte … Auf dem Campus jedenfalls, rennen gerade die Studierenden herum, um aufzuräumen – wie gut das es diese gibt!

Am Tag danach

Nun gut, ob Ohrstöpsel auf Dauer eine Lösung sind, können wir noch nicht sagen – zumindest helfen sie uns, für ein paar Stunden den Lärm zu dämpfen und Schlaf zu ermöglichen. Aber wenn es nun auf dem Campus selbst von zwei Seiten kommt, ist da kein Entkommen. Wir baten darum, uns demnächst vorab zu informieren, damit wir in einem solchen Fall von hier entkommen können.

Wirklich überall

Vergangenen Donnerstag haben wir einer Einladung folgend mit den Internationalen ein amerikanisches Thanksgiving gefeiert. Dazu sind wir etwas außerhalb von Waterloo aufs Land – abseits von Orten – Häusern – Straßen gefahren. Viele junge Familien – Missionare mit ihren vielen kleinen Kindern trafen sich auf einem Compound mitten im Wald, dicht an einem Wasserdamm. Es waren wirklich viele lebhafte Kinder – aber wir empfanden es dort so ruhig und entspannend wie schon lange nicht mehr – was eine Idylle.

Thanksgiving mit Internationalen ohne Lautsprecher – vielen Kindern – was für ein angenehmer Nachmittag

Und nun haben wir erfahren, daß auch für Sonntag eine Hochzeitsfeier auf dem Gelände – direkt hinter dem Haus angesetzt ist – super! Aufbau um 12 Uhr – das Paar kommt um 17 Uhr und enden wird es – ach so, Verzeihung das ist zu Deutsch gedacht … Es endete um 22 Uhr und damit ein sehr musikintensives Wochenende.

In jedem Fall haben wir unseren Gast gebeten, der uns über Weihnachten besuchen wird, auch einige Packungen Ohropax mitzubringen.

Ach ja, Weihnachten steht vor der Tür! Dies bietet eine gute Gelegenheit für viele zusätzliche Gebetsnächte – Veranstaltungen und Gottesdienste – natürlich verstärkt und nach außen gerichtet. Man will ja gerade die Außenstehenden erreichen! Was das nun mit Weihnachten zu tun hat, erschließt sich uns jedoch nicht.

Außer die Engel auf dem Felde hatten damals auch schon Mikrophone und Lautsprecher und beschallten das gesamte Betlehemer Hinterland?

Einen frohen Advent wünscht Familie Döhring

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