Wir erleben hier Dinge, die wir uns im Vorfeld nie hätten vorstellen können. Dinge, die wir nicht geglaubt hätten, wenn uns jemand vorher davon erzählt hätte. Es ist einfach zu anders, fremd und teilweise auch kaum vorstellbar in dieser Welt von Sierra Leone.

Das leidige Thema Strom beschäftigt uns von Anfang an und nahm nun seinen vorläufigen Höhepunkt. Seit Februar gabe es für mehrere Wochen keinen öffentlichen Strom mehr.

Schon lange ist bekannt, dass die Regierung dem türkischen Stromanbieter einen Betrag von ca. 38 Millionen Dollar schuldet und der nun nach vielen Warnungen und Mahnungen den Strom abgeschaltet hat.
Ende April kam eine Verlautbarung, dass die Regierung dem Stromanbieter 18 Millionen Dollar bezahlt hat, dazu noch aus anderer Stelle ein paar Millionen und nun sei damit das Thema vom Tisch. Der Strom wird ab sofort wieder fließen.

Nun ja, ab sofort fließt gar nichts. Es dauerte eine gute Woche, bis dann zum ersten Mal wieder öffentlicher Strom in unserem Haus ankam – allerdings für max. 4 Stunden und dann war wieder eine Woche Pause.
Dann ging es mit EDSA so weiter: 3 Minuten da – weg für längere Zeit – 2 Minuten – weg – 30 Minuten – weg usw. – ätzend.
Mittlerweile haben wir alle drei-vier Tage EDSA für 2 – 4 Stunden in den frühen Morgenstunden, bis max. 6 Uhr – dann erstmal wieder Verschnaufpause. Und dann wieder gar nichts für Tage!
Nun hat die Regierung erneut ein Schreiben herausgegeben, in dem der Stromengpass mit Reparaturarbeiten begründet wird, warum es zu „Ausfällen“ kommt. Also hier in Jui fällt gar nichts aus: Hier gibt es schon lange überhaupt keinen Strom mehr. Die Witzbolde der Regierung …

Kein fließend Wasser zu haben und vom Brunnen Wasser zu holen, um damit sich, die Wäsche und das Geschirr zu waschen oder die Klospülung zu betätigen, hatten wir nun auch 3 – 4 Mal für ein paar Tage. Für uns ein „Abenteuer“, für die hiesigen jedoch normal. Wir sind sehr froh und dankbar, dass manche Studierende mitbekommen, wenn wir Wasser holen wollen, und es uns bringen. Sie können es auf dem Kopf transportieren und sind viel schneller als wir. Das machen sie sehr gern, weil sie so ihre Wertschätzung ausdrücken können. Wir fühlen uns durch diese Gesten getröstet und geliebt.

Vor ein paar Tagen streuten sich Gerüchte, dass die Tankstellen schließen werden. Das hat oft mit Preiserhöhungen zu tun. Schon Ende letzten Jahres hieß es, dass die Regierung die Preise um 20% erhöhen möchte. Doch die Proteste gingen durch die Decke und so blieb das erstmal aus.
Zuletzt brodelte die Gerüchteküche erneut – kommt das jetzt? Wenn die Preise erhöht werden, schließen die Tankstellen sicherheitshalber erstmal. Dann können ein paar Tage ins Land gehen und bevor die Leute wegen der Preise Sturm laufen, sind sie dann lieber dankbar, endlich überhaupt wieder Tanken und Fahren zu können. Willkür, gegen die man nichts machen kann.

Nun also sind zwar die Tankstellen nicht geschlossen, aber es gibt seit ein paar Tagen kein Benzin mehr. Die Schlangen vor den Tankstellen und Zapfsäulen sind enorm. Der öffentliche Straßenverkehr und Transport liegen zu Teilen lahm.
Die Regierung erließ ein Schreiben, dass es keinerlei Engpässe gibt. „Es gibt genug, nur die Vorräte werden gehortet und das ist bei Strafe verboten“. Also keine Sorge, geht tanken – jeder bekommt.
Trotz dieses Erlasses gibt es kein Benzin und die Fahrzeuge warten …. seit Tagen. Man redet sich die Realität schön.

Diesel hingegen gibt es. Wie gut, dass wir ein mit Diesel betriebenes Fahrzeug haben! Dem Herrn sei´s getrommelt und gepfiffen.
Kleiner Wermutstropfen – unser Generator läuft allerdings mit Benzin … Zehn Tage war an den Tankstellen kein Benzin erhältlich. Jetzt läuft es wieder an, small small. Für unseren Generator hatten wir noch Reserven, wofür wir sehr dankbar waren. Doch dann war auch der Generator zweimal kaputt und wir konnten ihn für einen Tag nicht nutzen. Bei der schwülen Hitze ist das ein Problem für Kühl- und Gefrierkombi, zumal wir auch vorher den Generator immer nur wenige Stunden an hatten.
Und nun erneut seit Tagen kein Benzin und unsere Reserven für den Generator leeren sich. Was also ist wichtig – Akku für Handy – Laptop – Licht – Wäsche oder doch lieber am Abend der Ventilator um Schlafen zu können ….? Nicht so einfach – mal sehen, wie was kommt – jeder Tag hat seine eigene Geschichte und Wunder!
Das Leben hier ist anders. Nichts ist sicher oder vorhersagbar bzw. planbar. Was heute noch galt, ist morgen schon anders, überholt oder nicht mehr gegeben. Es herrschen Unklarheit und Verunsicherung. Haben wir in dieser Woche noch in einem Laden das gewünschte Material erhalten, gibt es das in der nächsten Woche nicht mehr. Keiner kann sagen, ob es das überhaupt noch mal geben wird, und wenn ja, wo.

Den Stand auf dem Schulweg, wo Ralf immer das Brot einkaufte, gibt es inzwischen nicht mehr. Also neue Möglichkeiten suchen. Wo es gestern Batterien / Lampen oder Paprika / Kartoffeln gab – ist das morgen nicht mehr der Fall. Also immer wieder suchen und finden oder eben verzichten. Das gilt für alles und jedes.
Personen, die Ansprechpartner oder Verkäufer waren, sterben – nun geht die Suche nach Hilfe wieder von vorne los.
Routine stellt sich nur schwer ein. Leben gestaltet sich hier völlig anders – man ist immer auf der Suche. Jeder Tag ist unsicher, ob es heute noch so läuft wie gestern. In der Regel nicht.
All das ist schon anstrengend genug. Wenn dann noch die großen Themen wie Wasser, Sprit und Strom hinzukommen, ist es belastend. Wir stellen fest: nicht nur für uns. Wir haben Geld und damit öffnen sich früher oder später Wege. Die meisten hier haben das nicht.
Unrecht und Willkür sind krass. Wir hören und erleben Geschichten, die uns schockieren. Einer von Christinas Studenten war als Freund bei einem Autoverkauf dabei. Er hatte eigentlich gar nichts damit zu tun – zufällig kannte er Verkäufer und Käufer, deshalb stellte er sie einander vor. Der Verkäufer war jedoch ein Betrüger und hat den Käufer in großem Stil übers Ohr gehauen (wie war der Spruch noch: Wenn es um Autos und Afrika geht, kannst du niemanden vertrauen!).

Weil der Verkäufer natürlich über alle Berge war, kam die Polizei und nahm den jungen Studenten als Komplizen fest. Alle Unschuldsbeteuerungen und Beweise brachten nichts. Er wurde mitgenommen, über Tage festgehalten, verhört, mit Elektroschocker gefoltert, geschlagen und eingesperrt. Das, so erfahren wir, ist hier ein durchaus normales Vorgehen der Polizei. Blaue Flecken, dick geschwollene Gesichter und Augen, Striemen am ganzen Körper – alles Zeugen von Polizeigewalt.
Nach einigen Tagen konnten gegen den Studenten keine erhärtenden Beweise erbracht werden. Sein Vater, ein Pastor, hatte auch Jura studiert und setzte sich für seinen Sohn ein. Der junge Student durfte gehen – musste allerdings viel Geld bezahlen. Dafür, dass er nichts verbrochen hatte und nicht schuldig gesprochen wurde (wahrscheinlich für Kost und Logis), ist das himmelschreiend.
Ein anderer Student war über mehrere Tage nicht zu erreichen und auffindbar. Wir hatten Sorge, dass etwas Schlimmes passiert sei … war es auch.
Auf einmal stand er wieder vor uns. Er war mit vier anderen in den letzten Wochen im Dschungel gewesen. Sie hatten mühevoll ein Stück Land gerodet. Damit gehört es ihnen. Das ist hier wohl normal. Es gibt Land, das keinem gehört, und wer es rodet und zum Bebauen vorbereitet, der besitzt es und darf es verkaufen. So haben sie es verkauft, um davon zu leben.
Doch eine Nachbarin ergriff die Gelegenheit, um sich persönlich zu bereichern. Sie informierte die Polizei und meinte, diese jungen Männer hätten ihr Land verkauft. Es wurden keine Papiere, Nachweise oder Beweise erbracht. Doch die Frau ist mächtig und hat Einfluss. Das reichte. Einfach die Aussage und Anklage dieser Frau sorgte dafür, dass zwei der jungen Männer, die aufgefunden wurden, festgenommen, eingesperrt und misshandelt. Unter anderem unser Student. Seitdem fehlt ihm ein Zahn.
Die Frau hat Geld und nutzt dieses, um ihren Willen zu bekommen. Die jungen Männer haben nichts und müssen nun an sie Geld zahlen, das sie aus dem rechtmäßigen Verkauf bekommen hatten. Da aber nur zwei eingesperrt wurden, hatten die anderen beiden Beteiligten ihr Geld schon weggeschafft. Der junge Mann wurde überhaupt nur aus der Polizei entlassen, weil sein Dorfchef ihn kennt und sich für ihn einsetzte. Er muss nun das Geld mühsam abstottern. Er hat sowieso nichts – er arbeitet hart für sein Studium und Überleben. Nun das! Haarsträubend. Solche Geschichten sind hier alltäglich.
Gerechtigkeit und Rechtssicherheit gibt es nicht. Man ist der Willkür von Obrigkeiten und Mächtigen hilflos und ohnmächtig ausgeliefert.

Aus unserem Kulturkreis kommend sind wir wütend, schimpfen und haben viele Vorschläge, was man wie zu tun hätte. Aber das greift nicht und hilft hier keinem einzigen. Das einzige, was hier hilft ist das Wissen:
Es gibt einen, dem wir alle – Gut wie Böse – einmal Rechenschaft über unser Leben, Entscheiden und Handeln ablegen müssen. Gott ist unbestechlich und perfekt gerecht! Keiner kommt da vorbei – egal wieviel Geld, Macht, Taten oder sonstige Schmiermittel er hat.
Und genau das hilft auch uns – die Welt ist nicht gerecht – die Menschen sind nicht gerecht – Gesetze sind nicht gerecht. Es sind mitunter gute und hilfreiche Möglichkeiten, aber gerecht ist all das nicht – weil es durch das Böse korrumpiert ist.
Kein Wasser – kein Strom – kein Internet – kein Benzin – Ungerechtigkeit und Willkür – das Leben wie wir es kannten ist anders. Wir sind hier auf Zeit – für die Menschen die hier Leben, ist das Alltag – voll normal eben. Aber was ist schon normal?!
Wir versuchen uns immer wieder daran festzumachen, indem wir uns und andere auf den verweisen, der einzig gerecht und damit unsere Gerechtigkeit ist. Und das mag uns helfen, einen anderen Blick auf das zu werfen, was uns begegnet und was es mit uns macht. Es ist nicht leicht, die Defizite und Mängel immer wieder unter die Füße zu bekommen, all das, was wir als Selbstverständlich erlebt haben und erachten. Aber wir sind hier nur auf Zeit – die anderen leben damit …. für immer. Gerecht?
So bleibt uns, bittend vor Gottes Thron zu kommen und in der Fürbitte um Auswege zu ringen. Man ist völlig existentiell auf Gott geworfen – in einem Maß, das uns bisher fremd war. Wie wunderbar sind in diesem Zusammenhang Gebetserhörungen!
In allem blitzt dann eben manchmal auch hier schon Gottes Gerechtigkeit auf und das lässt uns staunen und mehrt unser Vertrauen.
