Der Humanist Erasmus von Rotterdam schreibt in seiner Sprichwörtersammlung Adagia: „Es fängt der Fisch zuerst vom Kopf zu stinken an.“ Damit spricht er sich gegen die schlechten Herrscher seinerzeit aus, die mit ihrem Leben bzw. „ihrer Verderbtheit das Volk anstecken“.
Das Leben in Sierra Leone ist vielfältig und auf vielen Ebenen interessant anders. Es ist ja nichts Neues, dass Betrug, Korruption und Machtmissbrauch das Leben hier durchziehen. Lügen ist völlig normal und da gibt es selbst, wenn man erwischt wird, kaum ein schlechtes Gewissen oder die Einsicht, dass hier etwas nicht in Ordnung sein könnte.

Wir nehmen wahr: Es steckt in dieser Kultur, die Menschen haben es nie oder kaum anders erlebt und sind durch diese Art, das Leben zu bewältigen, zutiefst geprägt.
Von Beginn an wird uns erklärt, dass wir nun in einer anderen Kultur leben und uns dieser Kultur anpassen müssen. Das stimmt. Bis zu einem gewissen Grad tun wir das und meistern es … mit auf und ab. Natürlich ecken wir auch an.
Und doch ist es mitunter seltsam. Ein respektvoller Umgang ist absolut wichtig hier. Es waren wirklich etliche Male, in welchen wir zum Thema „die Wichtigkeit von Respekt“ unterrichtet wurden.
Das fängt mit der Anrede an. So ist es hier wichtig mit Titel – Rang und Namen angesprochen und vorgestellt zu werden. Warum auch nicht, oder? Aus der Zeit von K&K oder Preußentum ist uns das ja noch geläufig. In Österreich beispielsweise finden wir es bis heute noch etwas ausgeprägter, anders als es nun in der Social Media Kultur beschert wird.

Gerade in Begegnungen mit Leitern ist ein solches Verhalten unbedingt umzusetzen. Nun könnte man ja denken, klar, ein respektvoller Umgang ist durchaus löblich und gut.
So übten wir uns mit Sir – Mr. and Mrs. Präsident – Principal – Chairman usw …. und waren dann doch etwas verwundert, dass wir meist mit Christina und Ralf angesprochen und vorgestellt wurden.

Diese Erfahrung hat sich mit der Zeit bestätigt: Respekt ist eine hierarchische Einbahnstraße! Da wir hier keinerlei Positionen innehaben bzw. damit nicht ausgestattet wurden, sind wir in der Kaste ziemlich weit unten. In einem Organigramm des T.E.C.T. fand Christina nun im zweiten Jahr heraus, dass sie als Dozentin ohne weitere Funktionen in der Hierarchie unter den SekretärInnen und Sachbearbeiterinnen angesiedelt ist. Da wird dann manches auch verständlich.
Das ist die hiesige Kultur – na gut, so ist das eben! Wir haben uns noch nie viel aus Titel, Rang, Auszeichnungen, Ehrerbietungen etc. gemacht und können damit leben. Doch manches, was hier gelebt wird, hat für uns wenig mit einer erstrebenswerten Kultur zu tun und so möchten wir weder, dass es uns prägt noch unsere Akzeptanz findet. Es gibt Dinge, die sind für uns nur schwer zu verstehen – weder aus christlicher noch menschlicher Sicht.
Da hat der Erasmus wohl recht – der Fisch stinkt vom Kopf her – also Leiter und Mächtige fördern fragwürdiges Verhalten – so dass es für alle normal zu sein scheint und sich davon zu lösen kaum möglich ist. Die Lernfelder und Vorbilder fehlen schlichtweg. Über Jahrzehnte hat sich das verinnerlicht – so ist es eben!
In Sierra Leone kann man schwerlich von einer Demokratie reden. Wer an der Macht sitzt, hat das Sagen und immer recht. Er darf und kann nicht hinterfragt werden, ansonsten sind auch Repressalien nicht ungewöhnlich.

Wenn Menschen in Europa mit ihrer Regierung nicht zufrieden sind – Politik in Frage stellen, nehmen sie ihren Traktor – gehen auf die Straße und bestreiken das öffentliche Leben oder kleben sich einfach an den Baum oder die Straße.
In Sierra Leone gibt es so einiges, worüber die Menschen unzufrieden sind und in erschreckender Weise leiden. Aber Demonstrationen und Proteste werden verboten – bei Zuwiderhandlung räumt das Militär auf und nicht selten hat das Tote zur Folge, ohne dass das irgendwelche Konsequenzen hätte.
Nun kann man ja glauben, dass dies nur auf der politischen oder wirtschaftlichen Ebene vorkommt, aber leider ist das nicht so. Auch auf der geistlichen Ebene sind ähnliche Tendenzen der Machtausübung zu finden.

Geistliche Leiter sind hier unantastbar. Immer wieder hören wir von leitenden Gemeindepastoren, die in Ehebruch oder Veruntreuung leben. So war dann auch die Aussage von einem Studenten zu verstehen, der sagte: „Wir haben gelernt die Leiter zu achten und ihnen gehorsam zu sein, aber nicht zu tun, was sie leben!“
Wir spüren, dass es durchaus ein Bewusstsein für das Richtige gibt – aber wenn man dann in leitender Position ist, scheint sich das verklärt zu haben.
In einem Gottesdienst kommt nach einer guten Predigt während der Bekanntmachungen der geistliche Leiter nach vorne und zitiert sichtlich erbost einen jungen Mann nach vorne – in dem Saal sitzen über 100 Menschen.
„Dieser Mensch“, so der Leiter – „ist einem direkten Vorgesetzten mit mangelndem Respekt begegnet – dafür gibt es keine Entschuldigung!“ „Hier soll heute ein Exempel vollzogen werden!“
Der beklagte junge Mann kommt nach vorne, muss vor dem Leiter auf die Knie gehen, mit Mikrofon seine Schuld bekennen und um Vergebung bitten.
„Nehmt es auf Video auf!“, so der Leiter – „Das muss festgehalten werden. Ich will es der sendenden Organisation schicken und deutlich machen, was für schlechte Menschen sie uns bringen!“
Ton, Art und Weise sowie die Worte sind hart und aggressiv – fast vernichtend. Uns befremdet das zutiefst. Für uns wirkt es eher wie eine öffentliche Demütigung als ein Akt seelsorgerlichen Respektes …
Sicher mag sich der junge Mann verfehlt haben und das gehört angesprochen und geklärt. Doch diese Art hinterlässt zumindest bei uns andere Gefühle!
Kein Einzelfall – wie aber geht man damit um? Auch wir haben es am eigenen Leib erfahren – der Rahmen war kleiner, die Art und Weise ebenso aggressiv – mit dem Wunsch uns klein zu machen – Macht wurde verbal gewalttätig ausgeübt.
Irgendwie haben wir uns das mit dem respektvollen Umgang anders vorgestellt – nun ja, Kulturen sind doch sehr unterschiedlich.

Hierarchie gibt es nicht nur in Gemeinden. Wenn etwas am Haus kaputt ist, mussten wir zu Beginn immer den dafür zuständigen Ansprechpartner um Hilfe bitten. Es war fast jede Woche was anderes – Fenster – Tank – Türen – Strom – Wasser usw.. – wir kannten ja auch niemanden.
Der Verantwortliche für diese Dinge ist ein netter Dozent/Fachbereichsleiter, der neben Vorlesungen, Begleitung von Studenten, Examenskorrekturen, Leitung der dezentralen Studien und Gemeindearbeit eben auch noch diesen, doch größeren Bereich, verantwortet. Ihn zu erreichen dauerte immer. Bis dann Hilfe kommt, dauerte es noch mal länger.
Es liegt nicht daran, dass er faul oder unwillig wäre. Er hat einfach viel zu viele Dinge zu tun. Das ist ein ganz normales Phänomen: der Flaschenhals, wenn es um Verantwortung geht, wird immer enger. So ist auch zu verstehen, warum Entscheidungen und Beschlüsse unglaublich lange dauern, dann sehr kurzfristig getroffen werden und chaotisch in der Umsetzung sind.
Nun, wir haben uns dann einfach die Telefonnummern vom Schreiner – Installateur usw. besorgt. Wenn also wieder mal ein Problem war, riefen wir jetzt direkt den Fachmann an, dieser kam und fixte das Problem. So haben wir es in unser Kultur gelernt und so entlasten wir den völlig überarbeiteten Dozenten – dachten wir.
Nun erfuhren wir nebenbei und wurden deutlich abgekanzelt, dass wir das nicht einfach machen dürfen. Ihr dürft nicht an dem Verantwortlichen vorbei gehen, das ist respektlos. Im Geiste sahen wir uns schon vor 100 Leuten auf den Knien und vor dem gedemütigten Dozenten um Vergebung bitten.
Ist nicht passiert, aber verunsichern tut uns das schon. Wie gesagt, letztlich, wenn wir uns nicht selbst kümmern, leiden wir. Dann müssen wir mit dem Problem für ein paar Tage leben: kein Wasser, keine Spülung, keine Reparatur – small small eben.

Mehrfach wurde uns gegenüber erwähnt, dass in diesem Land Leiter einfach nicht gut Verantwortung abgeben können – oft begleitet mit einen Lächeln und Schulterzucken.
Wir denken eher, dass es hier nicht um ein übersteigertes Verantwortungsbewusstsein geht. Vielmehr sind Macht und Kontrolle am allerwichtigsten. Der Leitende muss wissen was wer wann und wie gemacht hat – denn so behält er die Kontrolle! So hat er die Macht und hält seine Untergebenen in Abhängigkeit.
Der Flaschenhals in diesem Land ist eng. Es wird wenig Eigenverantwortung gefördert oder zugelassen. Macht und Kontrolle werden genutzt, um andere in Abhängigkeit zu halten.
Geistliche Leiter – auch ein Problem des Systems.
Ein junger pastoraler Abgänger sah sich von Gott geführt und gerufen, als einheimischer Missionar zu arbeiten und zu den bisher unerreichten Dörfern und Menschen seines Landes zu gehen. Dorthin, wo es keine Christen und christliche Gemeinde gibt und nie geben sollte. Nach zwei Jahren seiner Arbeit sind dort etliche Menschen zum Glauben an Jesus gekommen. In sechs Dörfern versammeln sich nun Menschen, um das Wort Gottes zu hören und die Bibel zu studieren. Sie bauen drei Kirchen und die Menschen fragen nach mehr von Gottes Wort – etliche wollen sich taufen lassen. Weitere Dörfer bitten um Neugründungen an Gemeinden. Es besteht eine große Offenheit. Gott segnet diese Arbeit spürbar.
Sein Gemeindepastor, der ihm als Mentor zur Seite gestellt wurde, befürwortet diesen Weg und das Wirken dort … nicht! Seine Pläne für den jungen Mann waren andere gewesen. Missionsarbeit war nicht auf seinem Schirm. Eigentlich sollte er den jungen Missionar nach Ende seines Studiums als Pastor des Bundes vorschlagen, damit der junge Kollege ein vollwertiger Pastor sein und somit alle notwendigen Amtshandlungen, z.b. Taufen, durchführen kann. Doch der Gemeindepastor weigert sich das zu tun. Er stellt sich vehement dagegen.
Mehr noch, er verhindert Unterstützung und die Ernennung zum Pastor des Bundes. Der junge Mann hat zu keiner Zeit ein Gehalt oder Unterstützung erhalten, weder vom Bund noch von seiner Gemeinde. Als Diakone seiner Gemeinde das wahrnahmen, wurde in der letzten Gemeindeversammlung entschieden, seine Arbeit ab sofort finanziell zu unterstützen – super, kann man denken! Sein leitender Pastor sagte in dieser Versammlung gar nichts. Doch im Anschluss kam er auf den jungen Missionar zu und sagte ihm, dass aus dieser Unterstützung nichts wird. „Ich werde das nicht weitergeben, denn die Gemeinde kann sich das nicht leisten – du bekommst nichts von uns!“
In unserem Gebetstreffen überlegten wir, der junge Mann könne doch zum Präsidenten seines Bundes gehen, ihm die Notlage schildern und fragen, was er tun und wie er damit umgehen soll?
Der Präsident schien gewillt, das System zu umgehen. So wurde dem jungen Mann die Möglichkeit angeboten, den zur Aufnahme notwendigen Test in dieser Woche im Büro des Bundes abzuleisten, um dann auf dem kommenden Bundesrat des Gemeindebundes als neuer Pastor bestätigt und ausgerufen zu werden. Wie cool, oder?!
Ein Tag vor dem Test erhielt er jedoch vom Bundesbüro die Nachricht, dass der Termin abgesagt wurde. Sein leitender Pastor hat Widerspruch eingelegt und damit ist die Sache vom Tisch.
Wie viel Frust und Enttäuschung das alles auslöst – wie viel Segen durch solche Machtspiele von geistlichen Leitern kaputt gemacht wird – man kann es kaum erahnen.

Geistliche Leiter – ein Problem im System! Auch wenn es ärgerlich ist, sollte uns das eigentlich nicht verwundern, da es zur Zeit Jesu ja auch nicht anders war.
Wir haben uns entschieden, mit den jungen Leitern von morgen zu arbeiten – über Versuchungen – dienende Leiterschaft – Hingabe und den Willen Gottes – das ICH klein werden lassen, damit Gott groß wird.
Desöfteren hören wir von außen, dass es besser ist das System nicht zu hinterfragen und weiter zu machen wie bisher. Denn, wer weiß, wer am Ende sonst darunter leidet?!

Sicher kann man das so sehen, überzeugt davon sind wir nicht wirklich. Da man doch nur das bestehende System fördert und unterstützt, in der Hoffnung es klärt sich irgendwann alles zum Guten.
Nun ja, aber auch wir müßen eingestehen, es ist unsere Wahrnehmung und Brille und im großen Bild mag es nicht immer einfach sein, richtige und gute Entscheidungen zu treffen. Und ja, wer sind und was wissen wir schon – es funktioniert doch immerhin schon über Jahrzehnte. Die Frage aber bleibt, für wen und um wessen Ehre geht es dabei?
Länder wie dieses brauchen dringend Veränderung. Doch wir denken, diese kann nur von Außen kommen – durch veränderte Leiter in tiefer Abhängigkeit zu Gott – möge es nicht mehr lange dauern, darum beten wir. Bis dahin bleibt uns, die Leidenden zu trösten, zu ermutigen, ein verändertes Denken zu pflanzen und auch manches zu erdulden. Gott helfe uns dabei!
Denn letztlich ist die Verheißung auf Gerechtigkeit nicht dieser, sondern der zukünftigen Welt beschieden.
