Wir leben in Afrika. Deshalb ticken hier die Uhren anders. Auch am T.E.C.T. ist nicht immer alles so strukturiert und geordnet wie wir das gewohnt sind. Das stellen wir immer wieder fest. Gerade Christina wird ein ums andere Mal von der Spontaneität, von Entscheidungen und fehlenden Informationen überrascht.
Manche Dinge, die sie unmittelbar betreffen, erfährt sie erst über Dritte oder in den Bekanntmachungen der Andachten.

So ging sie zu Beginn des Semesters wie gewohnt mittwochs gegen 18.30 Uhr zur Chapel für den Campus Abendgottesdienst, der dort jeden Mittwoch von 18.45 – 20.30 Uhr stattfindet.
Sie wollte das Lied noch einmal durchspielen und kam einige Minuten vor Beginn. Dabei stellte sie fest, dort fand gerade ein Kurs statt. Das allein ist nicht ungewöhnlich, denn dies ist der größte Raum und manche Kurse brauchen für alle Studierenden eben mehr Platz. Mitunter überzieht schon mal der ein oder andere Kollege. So setzte sich Christina, um geduldig auf das baldige Ende zu warten. Als um kurz vor 19 Uhr ein Student zur Tür rein schaute, meinte der Lektor nur, dass der Abendgottesdienst ja erst um 20 Uhr beginnt …
Es wurde entschieden, die Zeit für den Abendgottesdienst in diesem Semester zu verschieben, um externen Studenten Wege zu ersparen. Also das Vorlesungsprogramm wurde gestrafft – Stunden / Tage, damit sich für die Externen die hohen Fahrtkosten reduzieren. Eine gute Idee. Leider wurde diese Entscheidung jedoch Christina nicht mitgeteilt. Dumm gelaufen…

In einer anderen Abendandacht erfuhr Christina aus den Bekanntmachungen, dass ab sofort ein Mentorenprogramm laufen wird. Jeder Studierende erhält einen Dozenten als Mentor, um sich mit diesem 3-4 Mal im Semester zu treffen und über Leben und Glauben auszutauschen. Die Liste der Zuordnung hängt am Infobrett aus. Christina war dann doch überrascht, als sie auf der Liste die Namen von 14 Studentinnen fand. Keine von diesen studierte Theologie und keine der jungen Damen kannte sie bzw. hatte etwas mit ihnen zu tun.
Wie also kommt da eine Verbindung zustande – also Kontaktaufnahme für ein Treffen? Zum einen ist das für die Studentinnen ein „aufgesetztes“ Programm. Zum anderen sind Weiße erst einmal fremd und die wenigsten suchen das Gespräch – junge Frauen schon mal gar nicht!
Aber Christina ist gewissenhaft. Dieses Programm gehört zum Dozentendasein dazu und muss gemacht werden. Auch wenn klar ist, dass wahrscheinlich ein Großteil der Dozenten kaum oder keine Gespräche führen wird, so nicht mit Mama Christina.

So fing sie eine Studentin ein, nannte ihr die Namen der Mentees und hangelte sich von Studentin zu Studentin. Die ersten Termine wurden nicht wahrgenommen – die Studentinnen kamen einfach nicht. Deshalb lud sie nun jeweils zwei Studentinnen ein. Gemeinsam findet man mehr Mut, sich mit der komischen weißen Frau zu treffen, als alleine. Diese Gespräche sind bisher eher kurz – aber ein Anfang ist gemacht. Die Studentinnen reagieren nun völlig anders auf Christina als vorher. Eine Beziehung ist geknüpft. Sie wurde sogar erstmalig in das Studentinnenwohnheim eingeladen. So entwickelt sich Vertrauen und im weiteren Verlauf kommen spannende persönliche Geschichten zum Vorschein.
Eine junge Dame ist Muslima. Ihr Onkel, ein Dozent am T.E.C.T., wusste von ihrem Wunsch zu studieren. So teilte er ihr mit, wenn sie möchte, würde er ihr das Studium am T.E.C.T. finanzieren – also Studiengebühren und Unterbringungskosten. Sie war dankbar, denn ansonsten wäre ein Studium für sie nicht möglich gewesen. Nun sitzt sie hier als Muslima unter Christen. Da es zum festen Programm gehört, nimmt sie auch am geistlichen Leben teil – was ihr äußerst fremd ist (Andachten, geistliche Rüstwoche, Gebetsnacht, Mentoring). Beim ersten Treffen mit Christina war sie sehr skeptisch und fühlte sich sichtlich unwohl – auch aufgrund der christlichen weißen Dozentin. Doch nach kurzer Zeit ist sie nun eine eifrige Hilfe, um für Christina die anderen Mentees zu besorgen.
Gut ist auch, dass wir monatlich für die Wohnheime die Verpflegung gewährleisten, so ist auch ihre Verpflegung gesichert – Gott arbeitet sehr effektiv! Danke!
Wir lernten einen jungen Mann kennen, der im dritten Jahr sein Theologiestudium am T.E.C.T. macht, Schwerpunkt Mission. Er kommt aus den Provinzen und sein Pastor mit seiner Familie übernimmt seine Studiengebühren. Allerdings hatte er kein Geld, um in einem der Unterkünfte auf dem Campus wohnen zu dürfen. So wohnte er mal hier, mal dort – kam immer woanders für ein-zwei Tage unter – und betete und wartete.

Ralf nimmt ihn auf seinem Abholweg von Nathanaels Schule immer mal wieder mit dem Auto nach Freetown mit, damit er dort bei irgendjemand Unterschlupf findet. Das ging mehrere Wochen so. Nachdem offensichtlich war, dass kein Geld kommen würde und dieser Zustand auf Dauer untragbar ist, haben wir ihm die 100 Euro für ein Jahr Unterkunft bezahlt. So hat er eine Unterkunft und auch einen Grundstock an Verpflegung, das hilft.
Ein anderer Fall: Moses, ein baptistischer Student aus Lunsar, bat uns um Gebetsunterstützung. Seine Mutter ist Pastorin einer Landgemeinde und gleichzeitig Leiterin einer Schule. Sie haben einen kleinen Jungen bei sich aufgenommen, der von der eigenen Familie nicht versorgt werden konnte. Das ist nicht ungewöhnlich. Dieser schlich jedoch eines nachts ungewohnt still an ihr vorbei. Sie war gerade wach und fragte, was er macht. Da kam heraus, dass er von einem Mitarbeiter der Schule eine Tüte mit Pulver erhalten hatte und dieses in das Essen der Schüler mischen solle, das im Schlafzimmer der Pastorin gelagert wurde. Dem Mitarbeiter ist die Pastorin ein Dorn im Auge – sie muss weg. So wollte er die Kinder krank machen. Die Schulleiterin sollte dafür die Konsequenzen tragen und endlich gehen.

Kurzerhand wurde die Polizei gerufen, der Junge erzählte seine Geschichte, der Mann und seine Hintermänner wurden angezeigt, alles einflussreiche Mitglieder der Dorfgemeinschaft. Doch bei der nächsten Befragung auf der Polizei gab der kleine Junge plötzlich eine ganz andere Geschichte von sich. Die Schulleiterin habe ihn genötigt, das zu tun, der Mann hätte gar nichts damit zu tun. Offensichtlich war der Junge unter Druck gesetzt worden. Seine neue Aussage fand Gehör. Die Leute waren erbost und die Stimmung wendete sich gegen die Schulleiterin. Viel stand mit einem Mal auf dem Spiel – Schule – Gemeinde – sozialer Stand. Wir beteten, möge Gott das Böse ans Licht bringen und seiner Macht entkleiden.
Letztlich stand Aussage gegen Aussage und wie auch immer, versuchen sie nun wieder gemeinsam Schule zu gestalten – ob dieser Friede von Dauer ist – kaum anzunehmen. Die Pastorin wird für „üble Nachrede“ verantwortlich gemacht und soll Strafe zahlen. Sie hat beschlossen, das Dorf zu verlassen und an einer anderen Schule zu arbeiten.

Familienleben auf dem Campus: Die Familie von Smart erwartet Nachwuchs – Gloria ist hochschwanger und jederzeit kann es losgehen. Da bekommt Smart plötzlich starke Schmerzen in der Brust. „Es ist als ob eine Säge in meiner Brust arbeitet!“, meinte er. Eine verschleppte Grippe, die aufs Herz geschlagen hat … ?
Nach mehreren Terminen im Krankenhaus wurde schließlich eine heftige Entzündung der Magenschleimhäute diagnostiziert. Er wird medikamentös darauf eingestellt, aber erst muss er die Rechnungen für Untersuchung und Medikamente aufbringen. Wie? Er ist Student und bringt mit dem was er mit harter Arbeit macht – nun ausfällt – kaum seine Familie über die Runden.
Ja und dann geht alles ganz schnell, das Kind meldet sich an – Gloria muss ins Krankenhaus und nicht alles scheint in Ordnung zu sein. Die Geburt ist kompliziert – irgendwas stimmt nicht – bitte betet mit! Dann ist das Kind da, eine kleine Tochter, aber sie gibt keinen Ton von sich und Gloria ist mit ihren Kräften am Ende – weiter beten. Deshalb ab ins Krankenhaus. Ein paar Tage später wird Gloria mit der Kleinen entlassen, allerdings mit dem Hinweis, dass das Baby nächste Woche wiederkommen soll … Die Geburt war heftig. Die Kleine ist mit den Füßen voran entbunden worden und bekam zu wenig Sauerstoff – wen wundert´s. Hätte nicht einer Hebamme – hätte nicht bei den Vorsorgeuntersuchungen die Fehllage auffallen und verändert werden müssen? Hätte, hätte Fahrradkette – sicher, in der ersten Welt ja, aber eben nicht in Ländern wie diesem.
Mittlerweile ist die Kleine wieder Zuhause – hat auch Töne von sich gegeben und es scheint, dass inzwischen alle wohlauf sind. Was bleibt, sind die Kosten für Krankenhaus und Medizin – ein bisschen konnten wir bei unserem Besuch helfen und abnehmen – was sonst.

Dann, es war Sonntagabend – kurz nach 20 Uhr – alles war dunkel – Ralf hatte sich schon geduscht und lag lesend im Bett unter dem sicheren Moskitonetz. Christina war kurz davor – als es plötzlich draußen in der Nähe hupte. Nichts ungewöhnliches, Hupen gehört zu Sierra Leone – wie die Luft zum Atmen.
Doch dieses Hupen war näher und anhaltender – nach ein paar Wiederholungen hörte es dann auf.
Christina meinte zu Ralf: Da steht ein Auto direkt vor unserer Garage – UUNNNDDD?? Soll Ralf jetzt aufstehen, rausgehen und für Ordnung sorgen? Hat das überhaupt was mit uns zu tun – bis morgen zur Schule wird der Weg schon wieder frei sein!
Aber um des lieben Seelenfriedens … Also ja, raus aus dem Bett, anziehen und zur Garage, Tor öffnen und mal schauen, welcher Parkkünstler diesmal eine kreative Idee zum Parken hatte. Nach Öffnen des Garagentors – das Auto stand wirklich direkt vor der Garage – kam auch schon eine Person auf Ralf zu – gut oder böse – das ist hier die Frage – alles war dunkel.

Der Mann meinte, er sei ein Student von Christina und hat etwas für uns im Auto – Ralf hatte so überhaupt keine Ahnung und genauso musste er auch geschaut haben. Der Mann meinte dann, er heißt General Overseer Samuel und hat ihr doch versprochen, ein Geschenk für sie mitzubringen. Er ist Pastor einer größeren Gemeinde mit Ableger in den Provinzen. Gerade kam er von dort zurück, wo er einen Schul-Neubau beaufsichtigt hatte, um die Woche über am T.E.C.T. zu studieren. Nun will er das Geschenk für Mum Christina abgeben.
Er öffnete die Kofferraumtür seines Pickups und holte zwei Papayas, eine Tüte voll mit Süßkartoffeln und einen größeren Sack heraus, das alles will er uns zukommen lassen – wow. Diese größeren Säcke kann man überall auf den Wegen und Straßen transportiert sehen. Weil da immer grüne lange Blätter heraushängen, dachten wir bisher, das sind Casavablätter (die kann man auch essen).
Weil Ralf annahm, der ganze Sack ist damit gefüllt, wollte er einfach anpacken und den Sack mal eben mit einer Hand aus dem Auto in die Garage heben. Doch bevor er dazu kam, kamen drei weitere junge Männer aus dem Dunkeln angelaufen und übernahmen das.
Wir fanden schließlich heraus, dass der Sack voller Kohle war. Wow, das hätten wir nicht gedacht. Und da die Kohle hier meistens nass transportiert wird, ist der Sack alles andere als leicht – na, da hätte Ralf gestaunt!

Was sind wir Euch dafür schuldig – wieviel Geld können wir Euch dafür geben? Ein erstaunter Blick und klare Ansage – „gar nichts“ – Mum Christina ist meine Dozentin und ich möchte ihr eine Freude machen!
Was aber machen wir nun damit? Wir haben noch nie und werden auch nicht mit Kohle kochen – also werden wir das alles weitergeben, bis auf eine Papaya, die wir dankbar für uns nutzen.
Im Rumfragen haben wir erfahren, dass es sich bei der Kohle um ein echt wertvolles Geschenk handelt und unendlich viele sehr, sehr dankbar dafür wären. So haben wir den Sack auf drei Familien aufgeteilt und Menschen augenscheinlich eine große Freude bereitet – Dankeschön!

Ralf war dankbar, dass dies alles an Geschenk war. Denn als die Tür vom Kofferraum aufging, schaute ihm der Kopf einer lebenden Ziege entgegen – die aber war – Gott sei´s gedankt, nicht für uns.
Solche Geschichten und Begegnungen gibt es jeden Tag und immer wieder. Manches ist einfach nur spannend, schön und ermutigend – wie sie und wir hier Gott am Handeln erleben. Anderes ist beklemmend und verstörend und bringt uns über die Grenzen des Möglichen. So ist das Leben eben – hier und jetzt – völlig geworfen auf den, der sagt, ich bin bei dir alle Tage. Er ist mit uns, der um unser Vertrauen ringt!
Noch etwas Bewegendes zum Schluss. Hier ist es üblich, wenn in einer Familie oder Dorfgemeinschaft (Fambul) ein Mensch stirbt oder geboren wird, zeitnah vorbeizuschauen, zu trauern oder zu gratulieren, ein Geschenk mitzubringen und zu beten. So machten wir uns auf den Weg zur Familie von Smart, nachdem Mutter Gloria mit der Neugeborenen aus dem Krankenhaus zurückgekehrt waren. Smart selber war nicht da, aber wir konnten kurz mit Gloria und den Kindern sprechen und das neugeborene Mädchen willkommen heißen. Wie sie denn heißt, wollten wir wissen? Das müsst ihr Smart fragen! In dieser Kultur ist das durchaus üblich und etliche Neugeborenen erhalten erst einige Zeit später ihren Namen – bei der Kindersegnung in der Gemeinde.
Ein paar Tage später kam Smart auf Christina zu und druckste ein wenig herum, er müsse sie unbedingt sprechen. Wir dachten an die Krankenhauskosten – medizinischen Untersuchungen etc. – es wird wahrscheinlich um Geldnot gehen.
Am nächsten Tag trafen die beiden sich und Smart fragte vorsichtig, ob es für Christina in Ordnung wäre, wenn sie ihre Tochter Christina nennen würden? Weißt du, meinte er, wenn du dann wieder weg bist aus Sierra Leone, dann bleibt etwas von dir da!

Das sind Momente, die bewegen und berühren uns sehr.
Nun gibt es auf dem Campus einen kleinen Nathanael und eine kleine Christina. Um Spekulationen vorzubeugen: Das mit dem dritten im Bunde wird wohl nichts werden, dieser Name ist hier einfach unaussprechlich und endet meist nach einigen Versuchen als RAF.