Das Semester, die Schule und auch unsere erste Zeit hier gehen nun dem Ende entgegen. Nathanael hat bereits in allen Fächern Prüfungen geschrieben und nun fehlt einzig noch das Zeugnis. Er berichtet zurzeit täglich, dass manche Schüler gar nicht mehr zur Schule kommen und oft der Unterricht „ausfällt“, also auch der Fachlehrer nicht da ist. So hatte er an manchen Tagen die erste und letzte Stunde mit einem Fachlehrer Unterricht, dazwischen Leerlauf oder Selbstbeschäftigung. Selbst wenn ein Vertretungslehrer da ist, beaufsichtigt er nur, mehr nicht. „Der sitzt dann draußen und spielt online Schach!“, so Nathanaels Kommentar.

Das ist wohl normal hier, so wird uns von allen möglichen Seiten bestätigt. Wenn die Arbeiten geschrieben sind, läuft in den Schulen nicht mehr viel. Von daher haben wir entschieden, dass Nathanael gerne mal zu Hause bleiben kann und nicht jeden Tag zur Schule fährt. Wer hätte das gedacht, dass wir jemals „schwänzen“ unterstützen würden?? Anders als in Deutschland ist das hier völlig normal und in Ordnung – dann ist das halt so. Schulpflicht gibt es hier sowieso nicht. Die weite Fahrt, das frühe Aufstehen, das Spritgeld lohnen sich nicht wirklich, wenn die Schüler zurzeit nur noch beaufsichtigt werden.
Nun werden auch die Examen am T.E.C.T. geschrieben. Wenn die Studenten ihre letzte Prüfung hinter sich haben, kann man sie mit Gepäck das Gelände verlassen sehen. Es geht ab nach Hause – manche zu ihren Familien, andere zurück zu den Waisenhäusern, aus denen sie ausgesandt wurden.

Wir haben ja schon berichtet, dass sich derzeit die persönlichen Nachrichten über Nöte und Schwierigkeiten und auch konkrete Fragen nach finanzieller Hilfe häufen.
Es vergeht kaum ein Tag, an dem wir nicht indirekt oder direkt um Hilfe gebeten werden. Die einen sind bei den Abschlussexamen nicht zugelassen, weil sie ihre Studiengebühren nicht zahlen konnten. Die nächsten haben für sich und ihre Familien schon länger nichts zu Essen gehabt. Die Tochter eines Mitarbeiters liegt seit Wochen im Krankenhaus und benötigt nach der Fehlgeburt nun eine Ausschabung – sie haben bereits 400 Euro für die Behandlung gezahlt, die restlichen 100 Euro haben sie nicht mehr. Die Batterie vom Auto unseres Nachbarn ist kaputt und sie haben kein Geld für eine neue. Die Medikamente gegen Typhus und Malaria sind nötig, aber nicht finanzierbar. Die Mutter oder der Bruder ist verstorben und sie haben kein Geld, um dort hinzufahren bzw. die Beerdigungskosten zu tragen. Eine Organisation für mittellose Kinder bittet um Patenschaften und um Vermittlung von Sponsoren. Gemeinden möchten bauen, neue Technik kaufen, sind abgebrannt und und und. So geht es endlos weiter.
Natürlich geht nicht alles – es ist zu viel – aber wie entscheiden – nach welchen Kriterien? Warum helft Ihr dort und nicht bei mir? Dieses Abwägen fällt uns schwer – wir leben halt mittendrinn und die Nöte sind echt. Wir müssen lernen damit umzugehen – Grenzen setzen – Entscheidungen aushalten – Unverständnis hinnehmen und manchmal stehen wir vor Gott und wünschen uns einen Dukatenscheißer in der Garage – fällt es Gott auch schwer, wem er wann, wo und wie hilft und eingreift? Nun, Er ist allmächtig. Wir sind es nicht.

Dass auch uns Weißen Grenzen gesetzt sind, versteht keiner. Du kommst aus der ersten Welt – du hast doch alles und ich möchte, dass du mit mir teilst!
Denn Teilen gehört hier zur Kultur. So sorgt Familie füreinander – man gibt, wenn Not ist, selbst wenn man selbst wenig bis kaum etwas hat. Das erleben auch Einheimische. Wer in Freetown und Umgebung wohnt ist reich – so sagen die ländlichen Bewohner der Provinzen.

Ein Student erzählte davon, dass seine Verwandten von ihm Fürsorge und Geld forderten, weil er doch in Freetown wohnt und deshalb reich sein muss. Dass er selbst seinen Kindern oft tagelang kein Essen geben kann, erscheint ihnen unmöglich. Er wohnt doch in der reichen Stadt! Aus diesem Grund geben manche auch lieber mehr als sie sich leisten können oder beschränken ihre Besuche in der Heimat zeitlich, damit sie nicht zu vielen Forderungen ausgesetzt sind.

Wir merken, dass es uns gut tut, durch unseren Deutschlandaufenthalt ein wenig Abstand zu bekommen! Luft holen, abkühlen, Kräfte sammeln.

Zu guter Letzt hat uns dann auch noch der Rektor aufgesucht, um Good-bye zu sagen. Er hat sich bedankt für Christinas gute Arbeit und unseren Einsatz hier – wir seien angekommen und gingen nun als Botschafter zurück – sind Teil von ihnen. Wir wissen, wovon wir reden, wenn wir von Sierra Leone berichten und vom Leben der Menschen hier. Ihr seid Botschafter auch vom T.E.C.T.!
Dann öffnete er sein Herz. Die finanzielle Lage ist immer wackelig – keine staatliche Förderung – die Trägerdenominationen beteiligen sich nur gering – ca. 35% des Haushaltes sollen über Spenden oder Vermietungen hereinkommen und ca. 60 % über die Studiengebühren abgedeckt werden. Doch etlichen Studenten fehlt schlichtweg das nötige Geld. Es gibt wenig Stipendien. Patenschaften wären toll, sind aber nicht vorhanden. Die Studenten wegen der fehlenden Beiträge dann nicht zu den Prüfungen zuzulassen ist eine der schwierigsten Entscheidungen für die Verantwortlichen – gerade wenn es um junge Frauen geht. Die kommen zum großen Teil aus sehr schwierigen Hintergründen – keine Familien, vielfach betroffen von Missbrauch, sozialen Missständen. Frauen sind in diesem Land sowieso sehr verletzlich. Belästigung, Diskriminierung und Gewalt gehören zum Alltag. Wenn sie weder Ausbildung noch Abschluss haben, ist nicht selten der Weg in die Prostitution vorgezeichnet.
Wenn aber die Studiengebühren nicht reinkommen oder in der semesterfreien Zeit ohnehin keine Gelder eingehen, kann der Rektor kaum die Dozentengehälter zahlen (und diese sind nicht üppig).
„Also bitte betet mit, dass wir die nächsten Wochen und Monate finanziell gut überstehen und Gott für uns sorgt – betet, erzählt – seid unsere Repräsentanten – ihr seid T.E.C.T.!“

Das war das große Anliegen des Rektors. Wir erleben hier einen Menschen, der ein hohes Verantwortungsgefühl hat, ein leidenschaftliches Herz für die Menschen, die ihm anvertraut sind, innige Liebe zum T.E.C.T. und ein großes Vertrauen in einen großen Gott.
Und ja, auch wir erleben einen großen Gott, der im Detail steckt, auch wenn wir das nicht immer auf den ersten Blick wahrnehmen.
Wir sind dankbar für alle Bewahrung und Segen, die wir in den zurückliegenden Monaten erfahren durften. Wir leben, sind weitgehend gesund, haben vieles gemeistert und überwunden, jeden Tag Schutz erlebt und sind in eine völlig fremde Kultur eingetaucht. Ja, immer wieder mussten wir kämpfen, überwinden und den Überforderungen nicht nachgeben. Nun sind die ersten beiden Semester geschafft.
Dazu haben viele Menschen beigetragen – durch Rückmeldungen – Begegnungen per Zoom oder Telefon – Emails – Whatsapp – finanzielle Unterstützung und Gebete – Danke dafür! Wir sind nicht allein – wir sind gesegnet!
